De Maizières Katze
Überlagerung der Zustände: Die quantenmechanische Dimension des Asylrechts
Kann ein*e Asylsuchende*r gleichzeitig sowohl eine hohe als auch eine geringe Bleibeperspektive innehaben? Die Bundesregierung führt dieses Paradoxon jetzt in der Gesetzgebung ein: Die Logik der Quantenmechanik hält Einzug in das Ausländer*innen- und Asylrecht.
Ein berühmtes Gedankenexperiment zur Verdeutlichung der Theorie der Quantenmechanik ist „Schrödingers Katze“: Ein Tier wird in eine abgeschlossene Kiste gesperrt, zusammen mit einer „Höllenmaschine“, die nach dem Zufallsprinzip in einer bestimmten Zeit ein Gift freisetzt – oder auch nicht. Nach der Logik der Quantenmechanik ist die Katze in der Kiste zugleich „lebendig“ und „tot“, und verbleibt in diesem Zustand, bis die Experimentieranordnung untersucht wird. Die gleichzeitig tote und lebendige Katze würde erst dann eindeutig auf „lebendig“ oder „tot“ festgelegt, wenn man sie beobachtet, also eine Messung durchführt.
Die Bundesregierung überträgt diese Logik nun auch auf das Ausländer*innen- und Asylrecht: Nach dem soeben vom Kabinett verabschiedeten „Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren“ sollen nämlich Asylsuchende nicht mehr nur sortiert werden in Menschen mit einer von vornherein „hohen“ oder einer „geringen“ Bleibeperspektive – das ist ja seit einigen Monaten ohnehin Standard.
Nein, nun soll das nach der herkömmlichen Physik Unmögliche möglich gemacht werden: Ein und derselbe Mensch vereinigt künftig in sich zugleich sowohl eine hohe als auch geringe Bleibeperspektive. Die „Überlagerung der Zustände“ aus der Quantentheorie manifestiert sich im Recht.
Das ideologisch aufgeladene Konstrukt der vermeintlich objektiv messbaren „Bleibeperspektive“ driftet somit vollends ins Absurde ab. Es entpuppt sich als das, was es von Anfang an war: ein politischer Kampfbegriff, der zwar nichts mit der Realität zu tun hat, aber als probates Mittel zur Separierung und Entrechtung bestimmter Flüchtlingsgruppen diente und dient.
Ein Beipiel:
Hohe Bleibeperspektive: § 44 Abs. 4 Satz 2 AufenthG räumt Asylbewerber*innen nunmehr einen Zugang zum Integrationskurs ein, wenn bei ihnen „ein rechtmäßiger und dauerhafter Aufenthalt zu erwarten ist“. Nach der Gesetzesbegründung zum im Oktober in Kraft getretenen „Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz“ sind damit diejenigen Asylbewerber*innen gemeint „die eine gute Bleibeperspektive haben. Erfasst sind (…) Asylbewerber, die aus einem Land mit einer hohen Anerkennungsquote kommen“.
Nach Auffassung des BAMF erfüllen diese Voraussetzung Menschen mit einer Aufenthaltsgestattung aus den Staaten Syrien, Eritrea, Irak und Iran.
Geringe Bleibeperspektive: Das nun vorliegende „Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren“ (Nur nebenbei: Wie wird wohl die Abkürzung heißen? „Asylverfahrensbeschleunigungsbeschleunigungsgesetz“?) sieht eine Leistungskürzung des Regelbedarfs nach § 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes in Höhe von zehn Euro vor und begründet diese ausdrücklich damit, dass „die Bleibeperspektive der Leistungsberechtigten ungesichert und deshalb von einem nur kurzfristigen Aufenthalt auszugehen ist.“
Wohlgemerkt: Die Leistungskürzung betrifft sämtliche Leistungsberechtigten innerhalb der ersten 15 Monate – auch Menschen aus Syrien, Eritrea, Iran und Irak.
Bei diesen ist also nach Überzeugung der Bundesregierung einerseits „ein rechtmäßiger und dauerhafter Aufenthalt zu erwarten“ und andererseits zu vermuten, dass „die Bleibeperspektive ungesichert“ und daher „von einem nur kurzfristigen Aufenthalt auszugehen“ sei.
Diese Logik lässt sich nur mit den Erkenntnissen der Quantenmechanik erklären!
Zweites Beispiel:
Asylsuchenden ist unter bestimmten Bedingungen seit Oktober 2015 eine frühzeitige Arbeitsförderung gem. § 131 SGB III eröffnet. Damit wird laut Gesetzesbegründung ausdrücklich das Ziel verfolgt „Asylbewerber(n), die eine gute Bleibeperspektive haben, schneller in Arbeit zu integrieren“. Nach Auffassung der Bundesagentur für Arbeit sind von dieser Privilegierung wiederum Asylantragsteller*innen aus Syrien, Eritrea, Irak und Iran erfasst. Also: „gute Bleibeperspektive“.
Einen Zugang zu den Leistungen der Ausbildungsförderung sollen aber auch diese Personen nicht erhalten. Die Bundesregierung begründet das so: „Asylsuchende haben vor einer Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) keine hinreichende Klarheit über eine Bleibeperspektive, die eine entsprechende Förderung rechtfertigen würde.“ (Bundestags-Drucksache 18/6267, Kleine Anfrage der LINKEN). Also: „keine hinreichende Klarheit über die Bleibeperspektive“.
Letztes Beispiel:
Der Zugang zu den Integrationskursen wird auch Asylsuchenden aus den vier privilegierten Staaten erst dann eingeräumt, wenn sie bereits eine Aufenthaltsgestattung besitzen – das Asylverfahren also begonnen hat. Während der Wartezeit auf den Termin zur Asylantragstellung (mit BüMA), die momentan oft genug zwischen sechs und zwölf Monaten dauert, wird zum Integrationskurs nicht zugelassen. Das BAMF begründet dies unter anderem damit, dass in dieser Zeit noch keine Klarheit bestehe, ob nicht eine Überstellung im Rahmen des Dublin-Verfahrens erfolgen werde. Daher sei die Bleibeperspektive noch nicht „gut“.
Das ist aus zwei Gründen absurd:
Zum einen zeigen die Statistiken, dass nur in gut zehn Prozent der Fälle, in denen ein anderer Dublin-Staat einer Überstellung aus Deutschland zugestimmt hat, tatsächlich auch eine Überstellung erfolgt. Die Bleibewahrscheinlichkeit liegt also selbst bei der festgestellten Zuständigkeit eines anderen EU-Staates objektiv weiterhin bei knapp 90 Prozent.
Und zum anderen widerspricht diese Praxis dem politischen Ziel, Integration frühzeitig zu fördern, in eklatanter Weise. Die Gesetzesbegründung zu § 44 AufenthG stellt fest: „Mit dem frühzeitigen Spracherwerb sollen ihre Integrationschancen erhöht und unnötige Folgekosten vermieden werden.“ Die Praxis des BAMF hingegen führt zum exakten Gegenteil: Der frühzeitige Spracherwerb wird weiterhin verhindert und unnötige Folgekosten werden weiterhin produziert.
Die Bundesagentur für Arbeit nimmt aus diesem Grund daher Asylsuchende auch mit BüMA in die frühzeitige Arbeitsförderung gem. § 131 SGB III auf – obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen für diese Gruppe hier exakt dieselben sind wie für den Integrationskurszugang. BAMF nein, BA ja.
Sonderbar?
Ja sicher. Aber ich bin überzeugt: Mit Hilfe der
Quantenmechanik
ließe sich auch das erklären. Ich weiß nur nicht wie.
-- Claudius Voigt Projekt Q - Büro für Qualifizierung der Flüchtlings- und Migrationsberatung Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e.V. (GGUA Flüchtlingshilfe) Hafenstraße 3-5 48153 Münster Fon: 0251 14486-26 Mob: 01578 0497423 Fax: 0251 14486-20 voigt@ggua.de www.ggua.de www.einwanderer.net Das Projekt Q wird gefördert aus Mitteln des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) sowie durch das Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes NRW (MIK). Das Projekt Q ist Teilprojekt im IQ Netzwerk Niedersachsen. Das Förderprogramm „Integration durch Qualifizierung (IQ)“ wird durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gefördert. In Kooperation mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sowie der Bundesagentur für Arbeit (BA). Die GGUA Flüchtlingshilfe ist Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV). Falls Sie im Bereich der Flüchtlingsarbeit in NRW auf dem Laufenden bleiben wollen - hier können Sie sich in die "Infoliste Münsterland" eintragen: http://www.ggua.de/Fuer-den-Newsletter-anmelden.172.0.html
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