(Zu: http://juris.bundessozialgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bsg&Art=tm&Datum=2016&nr=14127)

BSG zum Sozialhilfeausschluss von EU-Bürgern

Dreimal Nein heißt Nein

von Dr. Christian Stotz

Bereits zum dritten Mal binnen zweier Monate hat das BSG sich mit der Frage befasst, ob EU-Bürger von existenzsichernden Leistungen in Deutschland ganz ausgeschlossen werden dürfen – und sie erneut verneint. Von Christian Stotz.

Am Mittwoch hatte das Bundessozialgericht (BSG) in zwei weiteren Fällen Gelegenheit, über den Anspruch von EU-Bürgern auf Leistungen zur Existenzsicherung zu entscheiden. Wie zuvor bereits in zwei kontrovers diskutierten Entscheidungen im Dezember 2015, erklärte  das höchste deutsche Sozialgericht den vollständigen Ausschluss von EU-Bürgern von existenzsichernden Leistungen erneut für unzulässig. Möglich sei zwar die pauschale Verweigerung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II ("Hartz IV"). Die Sozialhilfeträger müssten jedoch prüfen, ob den Klägern Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII im Ermessenswege zu gewähren seien, wobei sich das Ermessen nach sechsmonatigem Aufenthalt zu einer Pflicht zur Leistungsgewährung verdichte.

Den Entscheidungen des BSG lagen der Fall eines Spaniers, der sich seit 2011 in Deutschland aufhielt, und der Fall einer Bulgarin zugrunde, die am 15. November 2012 schwanger in die Bundesrepublik eingereist war und hier im März 2013 Zwillinge zur Welt gebracht hatte. Beide hatten Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende beantragt, der Spanier im September 2013, die Bulgarin im Dezember 2012 – und beide waren damit bei den zuständigen Jobcentern gescheitert. Auf die daraufhin erhobenen Klagen verurteilten die Sozialgerichte die Jobcenter zur Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II. Im Fall des Spaniers hob das zuständige Landessozialgericht die erstinstanzliche Entscheidung jedoch wieder auf; im Fall der Bulgarin hatte die Berufung des Jobcenters hingegen keinen Erfolg.

Das BSG hat nun auf die Revision des Spaniers hin das Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben und den Rechtsstreit zurückverwiesen; eine direkte Verurteilung des zuständigen Sozialhilfeträgers war aus prozessualen Gründen nicht möglich (Urt. v. 20.01.2016, Az. B 14 AS 15/15 R). Im Fall der Bulgarin hatte die Revision des Jobcenters zwar Erfolg, allerdings wurde zugleich die beigeladene Stadt als Sozialhilfeträger verurteilt, der Frau und ihren Kindern für den strittigen Zeitraum Leistungen nach dem SGB XII zu gewähren (Urt. v. 20.01.2016, Az. B 14 AS 35/15 R).

Gemeinsame Linie der Entscheidungen

Mit seinen beiden Entscheidungen hat das BSG seine Linie in den sogenannten "EU-Bürger-Fällen" aus Dezember 2015 trotz der teilweise erheblichen Kritik bestätigt, so dass mittlerweile von einer gefestigten BSG-Rechtsprechung gesprochen werden kann. Diese sieht im Kern wie folgt aus:

EU-Bürger sind zwar von den Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende ausgeschlossen,  wenn sie weder über eine nicht von der Leistungsausschlussregelung erfasste Freizügigkeitsberechtigung, insbesondere als Arbeitnehmer, Selbstständiger oder Familienangehöriger nach dem FreizügG/EU noch über ein Aufenthaltsrecht nach dem AufenthG verfügen.

Ihnen sind jedoch Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII im Ermessenswege zu gewähren. Das bedeutet, dass die Sozialhilfeträger in jedem Einzelfall prüfen und erwägen müssen, ob dem jeweiligen EU-Bürger nicht doch Sozialhilfeleistungen zu bewilligen sind. Nach sechsmonatigem tatsächlichen Aufenthalt reduziert sich dieses Ermessen der Sozialhilfeträger jedoch im Regelfall zugunsten der Antragsteller auf null, da ab diesem Zeitpunkt von einem verfestigten Aufenthalt in Deutschland auszugehen ist, der es aus verfassungsrechtlichen Gründen gebietet, dem betroffenen EU-Bürger einen Anspruch auf Sozialhilfeleistungen einzuräumen, wenn ausländerbehördliche Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung nicht ergriffen werden.

Die Entscheidungen des BSG zu den EU-Bürger-Fällen haben erhebliche Diskussionen ausgelöst. Das BSG ist in Kenntnis dessen seiner Linie treu geblieben. Erste Überlegungen in der Politik gehen allerdings dahin, den Sozialhilfeanspruch von EU-Ausländern ausdrücklich per Gesetz zu beschränken. Trotz der Entscheidungen des BSG dürfte die Frage des Totalausschlusses also so schnell nicht von der Tagesordnung verschwinden.

Der Autor Dr. Christian Stotz ist Richter am Landessozialgericht und derzeit abgeordnet an das BSG als wissenschaftlicher Mitarbeiter.

Quelle: http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bsg-b-14-as-15-15-r-sozialleistungen-eu-buerger-deutschland/


Anmerkung:

SG Berlin, Beschl. v. 04.01.2016 - S 128 AS 25271/15 ER - http://dejure.org/2016,32

RiBSG Pablo Coseriu in jurisPK-SGB XII 2. Aufl. § 23 SGB XII, Stand: 15.01.2016 zu SG Berlin, Urt. v. 11.12.2015 - S 149 AS 7191/13 - http://dejure.org/2015,38234
Rn 63.3
A.A. SG Berlin v. 11.12.2015 (S 149 AS 7191/13): Der Gesetzgeber habe „unmissverständlich zu erkennen gegeben, dass erwerbsfähige Ausländer von Leistungen nach dem SGB XII ausgeschlossen sein sollen“. Deshalb überschreite das BSG mit seiner Auslegung den von der Verfassung der Judikative vorgesehenen Spielraum. Diese Auffassung, die unter Außerachtlassung verfassungsrechtlicher Vorgaben es für ausreichend hält, ausschließlich auf den subjektiven Willen des Gesetzgebers abzustellen, verkennt völlig die bei der Gesetzesauslegung anzuwendenden elementaren Auslegungsgrundsätze (dazu ausführlich die Anhang zu § 23 - Die Sozialhilfe als Gegenstand des Europäischen Rechts Rn. 97.3).
Rn 63.4
Der Einwand des SG Berlin (v. 11.12.2015 - S 149 AS 7191/13), ein Unionsbürger könne im Gegensatz zu einem Asylbewerber regelmäßig in sein Heimatland zurückkehren und dort gegebenenfalls Sozialleistungen erhalten, hat keinen inhaltlich-argumentativen Bezug zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG und lässt die Frage unbeantwortet, auf welche Weise und in welchem Sicherungssystem das menschenwürdige Existenzminimum bis zur Ausreise sichergestellt wird, wenn der Betroffene nicht zur Ausreise verpflichtet ist (vgl. Rn. 75.1). Die 128. Kammer des SG Berlin ist der Entscheidung der 149. Kammer deshalb auch ausdrücklich entgegengetreten (SG Berlin v. 04.01.2016 - S 128 AS 25271/15 ER - juris Rn. 33).


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