Am Mittwoch hatte das Bundessozialgericht (BSG) in zwei weiteren Fällen Gelegenheit, über den Anspruch von EU-Bürgern auf Leistungen zur Existenzsicherung zu entscheiden. Wie zuvor bereits in zwei kontrovers diskutierten Entscheidungen im Dezember 2015, erklärte das höchste deutsche Sozialgericht den vollständigen Ausschluss von EU-Bürgern von existenzsichernden Leistungen erneut für unzulässig. Möglich sei zwar die pauschale Verweigerung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II ("Hartz IV"). Die Sozialhilfeträger müssten jedoch prüfen, ob den Klägern Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII im Ermessenswege zu gewähren seien, wobei sich das Ermessen nach sechsmonatigem Aufenthalt zu einer Pflicht zur Leistungsgewährung verdichte.
Den Entscheidungen des BSG lagen der Fall eines Spaniers, der sich seit 2011 in Deutschland aufhielt, und der Fall einer Bulgarin zugrunde, die am 15. November 2012 schwanger in die Bundesrepublik eingereist war und hier im März 2013 Zwillinge zur Welt gebracht hatte. Beide hatten Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende beantragt, der Spanier im September 2013, die Bulgarin im Dezember 2012 – und beide waren damit bei den zuständigen Jobcentern gescheitert. Auf die daraufhin erhobenen Klagen verurteilten die Sozialgerichte die Jobcenter zur Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II. Im Fall des Spaniers hob das zuständige Landessozialgericht die erstinstanzliche Entscheidung jedoch wieder auf; im Fall der Bulgarin hatte die Berufung des Jobcenters hingegen keinen Erfolg.
Das BSG hat nun auf die Revision des Spaniers hin das
Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben und den
Rechtsstreit zurückverwiesen; eine direkte Verurteilung des
zuständigen Sozialhilfeträgers war aus prozessualen Gründen
nicht möglich (Urt. v. 20.01.2016, Az. B 14 AS 15/15 R). Im
Fall der Bulgarin hatte die Revision des Jobcenters zwar
Erfolg, allerdings wurde zugleich die beigeladene Stadt als
Sozialhilfeträger verurteilt, der Frau und ihren Kindern für
den strittigen Zeitraum Leistungen nach dem SGB XII zu
gewähren (Urt. v. 20.01.2016, Az. B 14 AS 35/15 R).
Gemeinsame Linie der Entscheidungen
Mit seinen beiden Entscheidungen hat das BSG seine Linie in den sogenannten "EU-Bürger-Fällen" aus Dezember 2015 trotz der teilweise erheblichen Kritik bestätigt, so dass mittlerweile von einer gefestigten BSG-Rechtsprechung gesprochen werden kann. Diese sieht im Kern wie folgt aus:
EU-Bürger sind zwar von den Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende ausgeschlossen, wenn sie weder über eine nicht von der Leistungsausschlussregelung erfasste Freizügigkeitsberechtigung, insbesondere als Arbeitnehmer, Selbstständiger oder Familienangehöriger nach dem FreizügG/EU noch über ein Aufenthaltsrecht nach dem AufenthG verfügen.
Ihnen sind jedoch Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII im Ermessenswege zu gewähren. Das bedeutet, dass die Sozialhilfeträger in jedem Einzelfall prüfen und erwägen müssen, ob dem jeweiligen EU-Bürger nicht doch Sozialhilfeleistungen zu bewilligen sind. Nach sechsmonatigem tatsächlichen Aufenthalt reduziert sich dieses Ermessen der Sozialhilfeträger jedoch im Regelfall zugunsten der Antragsteller auf null, da ab diesem Zeitpunkt von einem verfestigten Aufenthalt in Deutschland auszugehen ist, der es aus verfassungsrechtlichen Gründen gebietet, dem betroffenen EU-Bürger einen Anspruch auf Sozialhilfeleistungen einzuräumen, wenn ausländerbehördliche Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung nicht ergriffen werden.
Die Entscheidungen des BSG zu den EU-Bürger-Fällen haben
erhebliche Diskussionen ausgelöst. Das BSG ist in Kenntnis
dessen seiner Linie treu geblieben. Erste Überlegungen in der
Politik gehen allerdings dahin, den Sozialhilfeanspruch von
EU-Ausländern ausdrücklich per Gesetz zu beschränken. Trotz
der Entscheidungen des BSG dürfte die Frage des
Totalausschlusses also so schnell nicht von der Tagesordnung
verschwinden.
Der Autor Dr. Christian Stotz ist Richter am
Landessozialgericht und derzeit abgeordnet an das BSG als
wissenschaftlicher Mitarbeiter.
Quelle:
http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bsg-b-14-as-15-15-r-sozialleistungen-eu-buerger-deutschland/
Anmerkung:
SG Berlin, Beschl. v. 04.01.2016 - S 128 AS 25271/15 ER - http://dejure.org/2016,32
RiBSG Pablo Coseriu in jurisPK-SGB XII 2. Aufl. § 23 SGB
XII, Stand: 15.01.2016 zu SG Berlin, Urt. v. 11.12.2015 - S
149 AS 7191/13 - http://dejure.org/2015,38234
Rn 63.3
A.A. SG Berlin v. 11.12.2015 (S 149 AS 7191/13): Der
Gesetzgeber habe „unmissverständlich zu erkennen gegeben, dass
erwerbsfähige Ausländer von Leistungen nach dem SGB XII
ausgeschlossen sein sollen“. Deshalb überschreite das BSG mit
seiner Auslegung den von der Verfassung der Judikative
vorgesehenen Spielraum. Diese Auffassung, die unter
Außerachtlassung verfassungsrechtlicher Vorgaben es für
ausreichend hält, ausschließlich auf den subjektiven Willen
des Gesetzgebers abzustellen, verkennt völlig die bei der
Gesetzesauslegung anzuwendenden elementaren
Auslegungsgrundsätze (dazu ausführlich die Anhang zu § 23 -
Die Sozialhilfe als Gegenstand des Europäischen Rechts Rn.
97.3).
Rn 63.4
Der Einwand des SG Berlin (v. 11.12.2015 - S 149 AS 7191/13),
ein Unionsbürger könne im Gegensatz zu einem Asylbewerber
regelmäßig in sein Heimatland zurückkehren und dort
gegebenenfalls Sozialleistungen erhalten, hat keinen
inhaltlich-argumentativen Bezug zu den verfassungsrechtlichen
Vorgaben aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG und lässt die
Frage unbeantwortet, auf welche Weise und in welchem
Sicherungssystem das menschenwürdige Existenzminimum bis zur
Ausreise sichergestellt wird, wenn der Betroffene nicht zur
Ausreise verpflichtet ist (vgl. Rn. 75.1). Die 128. Kammer des
SG Berlin ist der Entscheidung der 149. Kammer deshalb auch
ausdrücklich entgegengetreten (SG Berlin v. 04.01.2016 - S 128
AS 25271/15 ER - juris Rn. 33).
-- Claudius Voigt Projekt Q - Büro für Qualifizierung der Flüchtlings- und Migrationsberatung Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e.V. (GGUA Flüchtlingshilfe) Hafenstraße 3-5 48153 Münster Fon: 0251 14486-26 Mob: 01578 0497423 Fax: 0251 14486-20 voigt@ggua.de www.ggua.de www.einwanderer.net Das Projekt Q wird gefördert aus Mitteln des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) sowie durch das Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes NRW (MIK). Das Projekt Q ist Teilprojekt im IQ Netzwerk Niedersachsen. Das Förderprogramm „Integration durch Qualifizierung (IQ)“ wird durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gefördert. In Kooperation mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sowie der Bundesagentur für Arbeit (BA). Die GGUA Flüchtlingshilfe ist Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV). Falls Sie im Bereich der Flüchtlingsarbeit in NRW auf dem Laufenden bleiben wollen - hier können Sie sich in die "Infoliste Münsterland" eintragen: http://www.ggua.de/Fuer-den-Newsletter-anmelden.172.0.html
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